Das Pólya-Urnenmodell: vom Ameisenstaat bis zur Vermögensverteilung
Selbstverstärkende Prozesse sind in Natur und Gesellschaft omnipräsent. Um sie zu erklären und ihre Einflussfaktoren zu ermitteln, schlug der ungarische Mathematiker George Pólya 1923 ein stochastisches Urnenmodell vor. In verschiedenen Varianten ist es bis heute Gegenstand aktiver mathematischer Forschung. So auch an der Universität Augsburg, wo der Mathematiker Prof. Dr. Stefan Großkinsky zusammen mit seinem Kollegen Dr. Thomas Gottfried diesen Ansatz weiterentwickelt hat, sodass er für komplexere Fragestellungen und Modelle verwendet werden kann. Erkunden Ameisen ihre Umgebung, so bevorzugen sie Wege, die bereits Ameisen vor ihnen wählten, da diese Pheromonspuren hinterließen. So setzen sich häufig ineffiziente Wege langfristig durch. In sozialen Medien werden beliebte Kanäle bevorzugt angezeigt, was deren Popularität weiter erhöht. Die Wahl zwischen konkurrierenden Technologien, wie Elektroautos und Verbrennern, hängt nicht nur von deren objektiver Qualität ab, sondern auch von den Entscheidungen vorheriger Kunden. Sind bereits viele Elektroautos auf den Straßen, möglicherweise aufgrund staatlicher Förderungen, so existieren in der Folge eine gute Ladeinfrastruktur und erschwingliche Preise. Ihr erweitertes Modell haben die beiden Augsburger Forscher angewendet, um die Dynamiken hinter dem Vermögenswachstum und der Einkommensverteilung zu analysieren. Ihre Simulation kann die realen Entwicklungen der letzten 20 Jahre reproduzieren und gut beschreiben. mh Diesen Artikel finden Sie auch in der AZ-Beilage "Wissenschaft und Forschung in Augsburg", Ausgabe 24, Seite 6. Die Publikation erscheint semesterweise in Zusammenarbeit der Universität Augsburg und der Augsburger Allgemeinen als achtseitige Themenbeilage in der Gesamtausgabe der Augsburger Allgemeinen.
Diese Beispiele untermauern die Omnipräsenz selbstverstärkender Prozesse in Natur und Gesellschaft sowie ihre Auswirkungen auf das tägliche Leben. Um derartige Phänomene zu erklären und deren Einflussfaktoren zu ermitteln, schlug der ungarische Mathematiker George Pólya 1923 ein stochastisches Urnenmodell vor. In verschiedenen Varianten ist es bis heute Gegenstand aktiver mathematischer Forschung.
„Stellen Sie sich eine Urne vor, die mit Kugeln verschiedener Farben gefüllt ist. Im Pólya-Modell ziehen wir zufällig eine Kugel und legen nach jedem Zug mehrere Kugeln derselben Farbe wieder in die Urne. Dadurch ändert sich die Zusammensetzung der Farben in der Urne ständig“, erklärt der Mathematiker Prof. Dr. Stefan Großkinsky. Er hat zusammen mit seinem Kollegen Dr. Thomas Gottfried diesen Ansatz weiterentwickelt, sodass er für komplexere Fragestellungen und Modelle verwendet werden kann. „Bisher wurden hauptsächlich lineare Verstärkungsmechanismen untersucht“, sagt Gottfried. „Mit unserer Verallgemeinerung kann das Urnenmodell eine Vielzahl von Mechanismen beschreiben, und unsere Ergebnisse lassen sich in anderen Disziplinen auch bei schlechter Datenlage anwenden.“Wenn Vermögen wächst
„Was wir nicht erwartet hatten, ist die große Abhängigkeit von Zinsen, das Modell reagiert hier sehr sensibel“, sagt Großkinsky. Aktien und Immobilienpreise sind stark gestiegen, Löhne haben sich nicht im selben Ausmaß erhöht, Vermögensaufbau durch Zinsen ist nur in geringem Maße möglich. Heißt: Reiche Personen können ihr Vermögen schneller vermehren als weniger Wohlhabende, was die Kluft zwischen den sozialen Schichten weiter vergrößert. „Diese selbstverstärkenden Prozesse hängen stark mit der Null-Zins-Situation bis Ende 2022 zusammen“, erklären die Forscher.