Online-Bibliothek: Medienethik - Mediengewalt und Jugendschutz
Thomas Hausmanninger
Eigentlich lehnen die Zuschauer Gewaltdarstellungen ab
Christliche Sozialethik und der Blick auf populäre Medien
Von den Kirchen erwartet man kritische Töne zum Erscheinungsbild der Medien aus ethischer Sicht. Thomas Hausmanninger, Professor für Christliche Sozialethik an der Universität Augsburg, überrascht mit ausgezeichneten Kenntnissen des Mainstream-Kinos und plädiert für eine differenzierte Beurteilung von medialen Gewaltdarstellungen. Sie führen, so Hausmanninger, eher zur ethischen Auseinandersetzung mit der Funktion und den Folgen von Gewalt als zu einer erhöhten Gewaltbereitschaft. Entscheidend sei weniger die Bedeutung detaillierter Darstellungsformen von Gewalt, als der Gesamtkontext und die Botschaft eines Filmes. Tv diskurs sprach mit ihm.
Sie beschäftigen sich mit Medienethik. Was genau ist der Gegenstand Ihrer Arbeit?
Der Gegenstand meiner Tätigkeit geht über die Medienethik hinaus. Meine Schwerpunkte in Forschung und Lehre umfassen theologisch-philosophische Grundlegungsfragen, Wirtschaftsethik, politische Ethik, Medien- wie auch Umweltethik. Zur Medienethik kam ich eher durch mein privates Interesse: Ich bin mit Comics aufgewachsen - lese sie auch heute mit 42 Jahren noch - und liebe den Film. Wie sich das für einen Intellektuellen gehört, habe ich freilich lange nur den Kunst- und Autorenfilm geschätzt. Erst durch die wissenschaftliche Beschäftigung bin ich aufs populäre Kino gestoßen - mit der Konsequenz einer neuen, bis heute anhaltenden Leidenschaft.
Als Theologe sind Sie in Ihrer Arbeit an die Bibel und die christliche Tradition gebunden. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus, um heutzutage Medienethik zu begründen?
Damit sind wir bei den ethischen Grundlegungsfragen: Moralvorstellungen, Ethik und ihre Begründungen sind für sich genommen zunächst einmal nichts spezifisch Christliches. Das kann man schon dem Römerbrief des Paulus entnehmen, in dem es heißt, das moralische Gesetz sei dem Menschen ins Herz geschrieben. Wir wissen im Grund alle, was moralisch ist - auch wenn sich unsere konkreten Moralvorstellungen kulturell unterscheiden und historisch wandeln. Diesen Kern, von dem ich spreche, finden wir etwa ab der sogenannten Achsenzeit - das ist die Phase, in der die großen Weltreligionen entstehen - in allen Kulturen: Es ist die Goldene Regel, die uns anweist, einander als gleichberechtigte Wesen beim Handeln zu achten. Welche konkreten Moralvorstellungen wir auch immer entwickeln mögen, die Goldene Regel sagt uns, dass als moralisch jedenfalls nur gelten kann, womit die jeweiligen Betroffenen einverstanden sein können: „Was Du nicht willst, dass man Dir tu´, das füg´ auch keinem andern zu.“ Oder anspruchsvoller in der positiven Fassung des Evangeliums: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut auch ihr ihnen.“ Immanuel Kant arbeitet diese Grundeinsicht im 18. Jahrhundert als Kategorischen Imperativ aus und sieht diesen in der Struktur unserer - praktischen - Vernunft verankert. Mir scheint, da hat er recht. Die kulturübergreifende Verbreitetheit der Goldenen Regel zeigt zumindest, dass wir Menschen stets auf den Kategorischen Imperativ kommen könnten, wenn wir mit unserer Vernunft darüber nachdenken, was denn das Moralische ist. Ethik und Moral lassen sich daher zunächst einmal rein vernünftig und religionsunabhängig begründen.
Metaphysik und Theologie kommen hingegen ins Spiel, wenn wir uns fragen, ob die Existenz eines moralischen oder moralfähigen Wesens in dieser Welt überhaupt Sinn macht oder ob das absurd ist. Als Sinnreflexion bilden Metaphysik und Theologie daher den Schlussstein der Ethik: Sie sichern Moralität als etwas Sinnvolles letztbezüglich ab. Und umgekehrt nehmen die entsprechenden Sinnkonzepte dann freilich wieder Einfluss auf die jeweiligen konkreten Moralvorstellungen.
Aus psychoanalytischer Sicht dient die aus der Ethik resultierende Moral dazu, die Triebbedürfnisse des Individuums durch ein verinnerlichtes Regelsystem so zu kontrollieren, dass ein Leben in der Gemeinschaft oder in der Gesellschaft möglich ist.
Das ist eine sehr freudianische, triebtheoretische Erklärung. Wenn man so will, geht es da um die Funktion von Moralvorstellungen. Nun kann man natürlich sagen, die Moral richtet sich gegen das egozentrische Lustprinzip, um zu verhindern, dass sich alle in ihrem Luststreben gegenseitig missbrauchen oder gar vernichten. Thomas Hobbes hat lange vor Freud auch schon einmal eine solche Überlegung getroffen und daraus die Notwendigkeit zu erweisen versucht, dass Machtverzicht zugunsten gemeinsam geteilter Regeln nötig ist. Kant wiederum ist es, der diese Überlegungen auf ihre logische Form bringt: Um Freiheit, freie Selbstentfaltung, zu ermöglichen, muss zugleich verhindert werden, dass der Freiheitsgebrauch der einen den der anderen unmöglich macht. Und das ist natürlich richtig. Nach diesem Muster muss es auch Beschränkungen für das Lustprinzip geben. Aber bei Kant gilt das genannte Prinzip für das Recht, also das Regelwerk, das mit Zwang und Verboten zu tun hat. In der Ethik geht es jedoch auch um Gebote. Und deren Ziel ist es oder sollte es jedenfalls sein, wenn sie als moralische betrachtet werden können sollen, Menschen Richtungen zu zeigen, wie ihr Leben gelingen kann. Moral, die wirklich eine ist, muss das wollen. Deshalb kann sie sich nicht mit den Verboten zufrieden geben. Das heißt nun aber, die funktionale Erklärung, Moral würde in erster Linie durch Grenzziehungen Zusammenleben ermöglichen, greift viel zu kurz. Moral, die wirklich eine ist, muss Horizonte für ein gelingendes Leben aufreißen. Das gilt auch für die Medienethik: Die Frage ist nicht, was muss verboten werden, sondern, wie können Medien und die Nutzungsweisen der Menschen zu einem gelingenden Leben beitragen? Und dazu gehört auch das, was Spaß macht. Diesen Horizont darf im übrigen auch der Jugendschutz nicht aus den Augen verlieren.
Im Bereich des Jugendschutzes geht es in erster Linie um Fragen der Gewalt. Dass wir als Menschen in Situationen geraten, in denen wir aggressiv und mit physischer Gewalt reagieren, gehört wohl zum Menschsein dazu. Folgt man Ihren Gedanken zur Goldenen Regel, müsste man sich in einer solchen Situation überlegen, welche Schmerzen man dem anderen zufügt, wie man sich in dessen Situation fühlen würde.
Eigentlich reagieren wir ja auch automatisch so! Die aktuellen Wirkungsforschungen, zum Beispiel die Untersuchungen von Jürgen Grimm, zeigen das sehr deutlich: Wenn wir Gewalt wahrnehmen - sowohl in der Realität als auch bei der Filmrezeption -, sind wir zunächst einmal eher geneigt, die Perspektive des Opfers statt der täterzentrierten einzunehmen. Deshalb muss beispielsweise der Regisseur den Film auch so anlegen, dass der gewaltausübende Held zu irgendeinem Zeitpunkt auch einmal als Opfer erscheint. Nur so gelingt es dramaturgisch, Empathie aufzubauen und den Zuschauern und Zuschauerinnen einen Zugang zum Helden zu ermöglichen.
Sie meinen, dass der Mensch von seinen Grundkonstanten her so etwas wie Mitleid empfindet?
Ja, das denke ich schon. Aber lassen Sie uns einen Schritt weiter gehen: Weil Sie eben triebtheoretisch argumentierten, lässt sich fragen: Sind vernunftgeleitete moralische Normen und Regeln grundsätzlich solche, die im Widerspruch zu der menschlichen Antriebsbasis stehen? Ich denke, nein. Dem Menschen sind auch Antriebs- und Instinktreste eigen, die mit den vernunftgeleiteten Normen produktiv zusammenwirken. Wir sind zumindest auch auf ein altruistisches und kooperatives Verhalten ausgerichtet. Wenn wir fragen, welche bei uns übrig gebliebenen Antriebe für das Sozialverhalten relevant sind, stoßen wir auf drei: Da gibt es einmal sicher die intraspezifische Aggression. Diese muss sich nicht sofort zerstörerisch entfalten - zunächst einmal ist das der Antrieb, der uns überhaupt erlaubt, Widerstände zu überwinden und etwas durchzusetzen. Aber sie kann natürlich destruktiv geformt werden. Zum zweiten finden wir so etwas wie eine Solidaritätsbereitschaft. Die vergleichende Verhaltensforschung zeigt, dass diese letztlich aus der sozialisierenden Angst entspringt: Bei Bedrohungen sucht man den Artgenossen und den Schulterschluss. Und zum dritten finden wir auch eine bis zur Selbstlosigkeit reichende Fürsorgebereitschaft. Die Basis ist hierfür der Brutpflegetrieb. Wenn man dieses Gefüge so betrachtet, ergibt sich zwar noch nicht automatisch, dass destruktives Handeln keine Chance in der Welt mehr hat. Aber es zeigt sich, dass die Entwicklung von Moral nicht nur gegen unsere natürliche Antriebsbasis arbeiten muss, sondern sich mit den beiden prosozialen Antrieben zusammenschließen kann. Wir handeln moralisch nicht bloß aus Pflicht, sondern auch aus Neigung. In den beiden prosozialen Antrieben würde ich nun auch die letztbezügliche Antriebsbasis sehen, die - vermittelt über Empathie - unsere unwillkürliche Stellungnahmen zu Gewalt mit bedingt. Die ältere Medienwirkungsforschung hingegen hat sich darauf versteift, dass mit so etwas nicht gerechnet werden könne. Für diese war der Mensch letztlich nur aus intraspezifischer Aggression und Luststreben zusammengesetzt.
Trotzdem: Wir brauchen eine gesellschaftliche Ethik, denn ohne sie würde das Zusammenleben nicht gelingen.
Das ist schon richtig, auch wenn die Ethik nicht in Grenzziehungen aufgeht. Wir brauchen moralische Richtlinien, weil wir möglicherweise auf dem Dispositionsfeld zwischen Aggression, Brutpflegetrieb und solidarisierender Angst falsche Dispositionen vornehmen und falsche Haltungen entwickeln. Menschen können auch dazu erzogen werden, die beiden prosozialen Antriebe zu überspringen. Zwar zeigt die Geschichte der militärischen Erziehung, dass das nicht einfach ist: Es bedarf spezieller Ausbildungsprogramme, um Menschen überhaupt dazu zu bringen, andere Menschen anzugreifen. Aber es ist möglich. Darüber hinaus wissen wir auch, dass im normalen Leben Verletzungen und Versehrungen entstehen können, die in aggressives Handeln umschlagen können. Da spielen die gesellschaftlichen Strukturen und Verhältnisse eine wichtige Rolle. Wer ständig zu kurz kommt oder getreten wird, neigt eher dazu, zurückzuschlagen oder sich mit Gewalt zu nehmen, was er für sein Glück nötig erachtet.
Ob ein Mensch moralisch ist, ob er sich also bei seinen Taten überlegt, was er dem anderen zufügt, ist also nach Ihrer Überzeugung die Folge eines sehr komplizierten Lernprozesses?
Ja, auf jeden Fall. Wir bringen zwar Anlagen mit, doch bedürfen diese der erzieherischen und sozialen Förderung, Formung und Weiterentwicklung. Das ist jetzt die Frage nach der Moralpädagogik. Und da kann man natürlich wieder fragen, welchen Anteil die Medien daran haben oder haben sollen. Wichtig erscheint mir hier zunächst, entwicklungspsychologisch informiert zu sein. Kompetenzen wachsen, Menschen können nicht alles zu aller Zeit. Mit Blick auf Jean Piaget und neuere Forschungen kann man zum Beispiel entdecken, was in welchem Alter überhaupt wahrgenommen und verarbeitet werden kann - und zwar grundsätzlich, noch bevor man dann versucht, Differenzen in der Kompetenzentwicklung der verschiedenen Generationen und sozialen Gruppen zu berücksichtigen. Da zeigt sich beispielsweise, dass kleine Kinder noch keine serielle Verknüpfung unter einem Kriterium leisten können. Die Montagestruktur des Films macht dann eventuell Probleme - um den Handlungsgang und die Geschichte zu verstehen, müssen bestimmte Einstellungen unter derselben Perspektive zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können. Man kann daher zum Beispiel empfehlen, auf komplizierte Montagen und komplexe Erzählformen - wie etwa Rückblenden - zu verzichten, da das nicht verstanden werden kann. Auf der Ebene der moralischen Entwicklung wiederum sind kleine Kinder im Autoritätsschema vom Lohn-Strafe oder Nichterwischtwerden-Erwischtwerden. Etwas später wird dann ein Kalkül zum gerechten Tausch daraus und ein do-ut-des-Schema. Das muss ich berücksichtigen, wenn ich will, dass der moralische Knoten einer Erzählung verstanden werden kann. Und für den Jugendschutz heißt das, dass zum Zweck der gedeihlichen Moralentwicklung auf diese unterschiedlichen Kompetenzlevels geachtet werden muss. Empfehlungen für Eltern oder auch Grenzziehungen durch Alterslabels müssen entsprechend gestaltet werden. In Bezug auf Gewalt könnte man dann sagen, es kommt darauf an, wofür diese als Zeichen steht und sie muss entsprechend dem Kompetenzniveau eingesetzt sein. Eine klare Etikettierung einer Figur als böse, die durch Zeichnung der Figur als gewalttätig erfolgen kann, ist dann etwa für jüngere Kinder hilfreich, während sie durch eine gebrochene Figur, in der sich gut und böse überkreuzen, noch überfordert wären. Auch dem Aufbau ihrer eigenen moralischen Orientierung hilft diese klare Zeichnung dann besser. Die Kompliziertheit der Welt kann dann später vorgeführt werden.
Woraus resultiert aber das Interesse vieler Menschen, sich Aggressionen, Verletzungen, Folter und Tötungen in Filmen überhaupt anzuschauen?
Da gibt es viele Motive, aber auch viele Formen von Vergnügen, die wir beim Anschauen von gewalthaltigen Filmen entwickeln können. In ein paar Sätzen lässt sich das nicht erschöpfend entfalten. Aber ein paar Hinweise lassen sich geben. Zuerst ist einmal festzuhalten, dass Gewalt im Film ein Zeichenfundus ist, der sehr vielschichtig gebraucht werden kann. Man kann beispielsweise durch Gewalt das Böse charakterisieren und Gewalt auch Gewalt bedeuten lassen. Aber man kann auch auf kompliziertere Zusammenhänge verweisen wollen, für die Gewalt dann nur das symbolische Material ist. Über die existentielle Gefährdetheit der menschlichen Existenz kann ich beispielsweise philosophisch reden - aber dies lässt sich schwer in Bilder übersetzen. Da bietet sich Gewalt an, denn diese verstehen wir recht unmittelbar. Und es bietet sich an, dass ich diese individualisierend darstelle, auf eine Figur oder ein überschaubares Figurenverhältnis bezogen, denn dann kann ich schlüssige Geschichten erzählen. Auf der Bedeutungsebene hingegen kann Gewalt dabei vielleicht für die Selbstgefährdung einer Gesellschaft oder die Todesverhaftetheit alles Menschlichen stehen, oder für die Verstrickung in schicksalhaftes Unglück. Schließlich kann Gewalt aber auch lediglich für Dynamik, Bewegung und Tempo oder Geschicklichkeit stehen. Gewalt gegen Sachen wird im Film meist so eingesetzt - denken Sie an die Autojagden mit Karambolagen und Explosionen -, aber auch die Choreographien des Kung-Fu-Films setzen Gewalt meist nicht in der Bedeutung Gewalt, sondern als Zeichen für Geschicklichkeit, Meisterung der Existenz, Selbstvervollkommnung etc. ein.
Daran kann man jetzt ein paar rezeptionsästhetische Überlegungen anschließen. Wir genießen einen Film auf drei Ebenen: Auf der sensomotorischen Ebene bietet uns der Film vermittels Empathie psychophysische Anregung. Wir klammern uns beispielsweise bei der Autojagd in „Terminator“ am Kinosessel fest, schütten Adrenalin aus und haben Herzklopfen etc. Auf der emotionalen Ebene entwickeln wir Gefühle. Wir fürchten uns etwa vor dem Terminator und es wird uns schon mulmig, wenn die Musik ankündigt, dass er demnächst auftauchen wird. Oder wir schmelzen zur Klaviermusik dahin, wenn Sarah Connor endlich ein Stückchen Glück in der Liebesszene erfahren darf. Oder haben Tränen in den Augen, wenn Sie am Ende ihre Liebe auf Band festhält für ihren Sohn. Auf der kognitiven Ebene bauen wir uns den Film, seine Handlung, Bedeutungen und seine filmgeschichtlichen oder sonstigen Verweise zusammen. Wir genießen es, die Kompliziertheit der Handlung zu durchschauen, sind stolz, wenn wir die Anspielungen auf die Weihnachtsgeschichte im Terminator oder die Verweise auf den Western darin entdecken.
Grundsätzlich genießen wir auf den drei Ebenen, dass wir etwas spüren, fühlen und geistig verarbeiten können. Es bereitet uns Lust, über sensomotorische, emotionale und kognitive Kompetenzen zu verfügen. Wir fühlen uns lebendig, weil wir uns darin gewissermaßen selbst ´aktualisieren´, verwirklichen. Der Anthropologe Arnold Gehlen hat dafür den Begriff der Funktionslust geprägt: Es macht uns Freude, dass unsere psychophysische Ausstattung funktioniert. Die Funktionslust ist daher die Grundlage für das Vergnügen auch an Filmen. Im Unterschied zu anderen Formen, unsere Kompetenzen zu verwirklichen, bleibt dies beim Film jedoch vom Ernst des Lebens freigesetzt. Wir werden nicht wirklich verfolgt, wir verlieren nicht wirklich den Liebespartner oder müssen jemandem beistehen, dem das passiert ist, wir müssen den Film auch nicht begreifen und intellektuell durchdringen, um eine Prüfung darüber zu bestehen. Daher kann die Verwirklichung unserer Fähigkeiten entlastet geschehen, um ihrer selbst willen. Und so kann die Funktionslust das eigentliche Ziel der Rezeption sein. Diese hintergründige Wahrheit steckt daher auch in dem Satz, wir würden ins Kino gehen, um Spaß zu haben. Der Spaß besteht in der entlasteten Selbstverwirklichung.
Auf dieser Basis kann man dann weitere, sekundäre Nutzungsinteressen aufbauen. Weil es nicht ernst ist, können wir den Film zum Beispiel dazu benützen, uns mit uns selbst über ein reales Thema zu verständigen. Wir können etwa unsere Moralvorstellungen experimentell zu denen der Hauptfigur ins Verhältnis setzen und austesten, ob wir mit diesen einverstanden sein könnten. Wir können aber auch unser Vergnügen dazu benutzen, unsere Stimmung in eine bestimmte Richtung zu lenken. Also etwa nach einem stressigen Tag mit einer Komödie wieder heiter werden, oder nach dröger, eintöniger Arbeit mit dem Actionfilm etwas Anregung zu gewinnen und spüren, dass wir noch am Leben sind.
Die Beispiele, denke ich, zeigen auch bereits, dass gewalthaltige Szenen hierbei eine entsprechende Rolle spielen können. Festzuhalten ist dabei jedoch, dass wir nie einfach nur Vergnügen an der Gewalt als solcher haben. Wir genießen nicht das Übel - und dass Gewalt ein Übel ist, wissen wir alle, denn wir wollen sie normalerweise nicht erleiden -, sondern die Verarbeitung des Übels, also seine Funktion und Bedeutung im Ganzen eines Films. Gewalt als Gewalt, die realistisch ist und uns ohne tröstliche Auflösung auf den Leib rückt, mögen die Zuschauerinnen und Zuschauer normalerweise nicht sonderlich. Daher bedarf es ja auch der entsprechenden Kunstgriffe, um dem Publikum überhaupt genussfähige Empathie zu ermöglichen. Denken Sie an das Sportlerdrama Rocky: Was muss Sylvester Stallone alles erleiden, bis er dann zum Ende seinen Kampf gewinnen kann. Dass das Publikum da emotional mitgehen, mit ihm leiden kann, es legitim findet, dass Rocky selbst zurückschlägt und letztlich brachial seinen Sieg erringt, erfordert entsprechenden dramaturgischen Einfallsreichtum.
Diese dramaturgischen Tricks werden im Jugendschutz gerade als Problem angesehen. Der Selbstjustizklassiker Ein Mann sieht rot ist diesbezüglich geradezu perfekt. Der Held ist Kriegsdienstverweigerer, lehnt Waffen ab und arbeitet als angesehener Architekt. Dann überfällt eine äußerst brutale Gang Frau und Tochter, was so intensiv inszeniert ist, dass es für den Zuschauer kaum zu ertragen ist. Der Staat, in Form der zuständigen Polizei, zeigt wenig Interesse, die Verbrecher zu finden. Aus dem Opfer wird ein Täter: Der Held beginnt, so genannten “Abschaum” umzubringen, provoziert zum Teil selbst Verbrechen, um die vermeintlichen Täter eiskalt abknallen zu können.
Ja, da ist die Opferrolle perfide eingesetzt. Das Beispiel zeigt, dass mit der Frage nach dem Vergnügen noch nicht gelöst ist, ob diese Form von Vergnügen jeweils ethisch zuträglich ist. Ethisch gesehen, müssen wir erst entscheiden, ob das Vergnügungsangebot eines Films legitim oder illegitim ist. Michael Winners Film ist zweifelsohne dramaturgisch perfekt gemacht und bietet uns eine Fülle sensomotorischer und vor allem emotionaler Anregung. Auf der kognitiven Ebene können wir sogar Verweise auf die Filmgeschichte und auf reale politische Positionen erkennen. Doch gleichen diese Positionen denen der National Rifle Association und empfiehlt der Film letztlich gewalttätige Selbstjustiz. Das wird dann auch nochmals durch die emotionale Dramaturgie unterstützt: Wer die Vergewaltigungsszene gesehen hat, ist emotional dafür disponiert, die Wandlung der Hauptfigur ´verstehen´ zu können.
Aber auch hier heißt es wieder, genauer hinzusehen. Das Problem mit „Ein Mann sieht rot“ ist, dass er realweltlich bezogene Aussagen machen will. Daher überschreitet er in meinen Augen die Grenze. Es ist nicht extreme Gewalt oder deren Realistik, die problematisch ist, sondern die Aussage, die auf unsere realen Verhältnisse bezogen ist. Für realweltlich bezogene Aussagen gelten die moralischen Grundsätze, die auch sonst in der realen Welt - also etwa unserer Gesellschaft - gelten. Ein Film kann jedoch auch mit Fug und Recht Gewalt detailliert ins Szene setzen und zwiespältige Helden vorführen. Er tut dies auf legitime Weise, wenn er auf einen geregelten Tabubruch zielt. Diese Kategorie ist in der Diskussion noch nicht verbreitet, daher will ich das etwas genauer erläutern:
Ein geregelter Tabubruch setzt auf der Werkseite voraus, dass eine große Distanz zur Realität errichtet wird und die Absicht des Films deutlich wahrnehmbar auf ein realitätsfernes Spiel mit Normbrüchen gerichtet ist. Das ist etwa der Fall bei „From Dusk ´Till Dawn“. Hier haben wir den zynischen Helden - George Clooney -, der in der zweiten Hälfte des Films zum Sympathieträger wird. Und wir haben mit Splatterelementen inszenierte, dramaturgisch positiv dargestellte Gewalt. Der Film kann dies, da er sich in erster Linie nicht auf die reale Welt, sondern auf den Film und die Populärkultur bezieht: Er lebt vom Spiel mit der Geschichte des Horrorfilms und dem populärkulturellen Wissen des Publikums - etwa darüber, dass Clooney vorher den sympathischen Kinderarzt in emergency room dargestellt hat und nun diese Rolle bricht. Entsprechend ist das Vergnügungsangebot des Films beschaffen. Jemand, der diesen Schritt auf den Metatext, also zu diesen genreimmanenten und populärkulturellen Verweisen nicht mitmacht, kann an ihm wenig Gefallen finden.
Das deutet an, dass der geregelte Tabubruch jedoch auch etwas auf der Rezeptionsseite voraussetzt: Ein Publikum, das ihn werkgerecht rezipiert. Und ein Publikum, das mithin zwischen den für die reale Welt geltenden Normen und dem Spiel des Films zu unterscheiden vermag. In den menschenrechtlich orientierten Gesellschaften der 1990er Jahre kann man diese Voraussetzung zunächst einmal in der Weise gegeben sehen, dass durch den gesellschaftlichen normativen Rahmen jedenfalls bekannt ist, welche Normen bezüglich Gewalt gelten und dass der Film diese bricht, ohne dass diese dadurch außer Kraft gesetzt würden. Darüber hinaus zeigt die Rezeptionsforschung, dass Filme dieser Art in erster Linie von einem genrekundigen Publikum aufgesucht werden. So kann man auf eine entsprechend gelingende Rezeption rechnen, ohne befürchten zu müssen, dass das Publikum wegen des Films nun zu einem gewaltbejahenden Mob wird. In der wilhelminischen Gesellschaft wäre das weniger sicher gewesen. Dort hat man sich bemüht, auch über die Jugendliteratur übrigens, vor allem männliche Jugendliche zu heroisch-kriegerischen Charaktertypen zu erziehen. Gewalt, vor allem gegen Fremde, war nicht einfach in den Bereich der Illegitimität verbannt. Das Publikum hätte zwar wohl kaum mit Tarantinos Film umgehen können, weil es diese Darstellungsformen noch nicht gab, aber vergleichbare Produkte wären in diesem Kontext auf einen völlig anderen Interpretationsrahmen des Publikums gestoßen. Um es zugespitzt zu sagen: Wenn die Gewalt gegen die ´richtigen´ Personen gerichtet gewesen wäre - etwa die ´Feinde Deutschlands´ -, wäre das nicht einmal als Tabubruch erschienen, geschweige denn als geregelter.
So kompliziert also erscheinen mir die Dinge - und das hat natürlich zur Folge, dass meine Überlegungen für viele immer wieder einmal zwischen die Fronten geraten.
Es geht Ihnen wohl mehr um den Kontext, ob Gewalt letztlich befürwortet oder negativ bewertet wird?
Ja, das ist mir sehr wichtig. Die primäre Frage lautet: Welche Aussagen zur Gewalt werden durch einen Film getroffen? Es geht also nicht darum, ob eine Szene drastisch ist, sondern darum, wie sie in den Kontext eingebaut ist. Es geht um ihre Bedeutung, und wie diese Bedeutung zur Aussagenkonstruktion beiträgt.
Das mit dem Kontext können wir nun noch ein wenig weiter differenzieren. Waldemar Vogelgesang unterscheidet vier verschiedene Nutzungsebenen, die auch mit vier verschiedenen Zuschauergruppen in Verbindung gebracht werden können: Es gibt die Gruppe des Fremden - das sind Menschen, die zum ersten Mal einem bestimmten Genre, beispielsweise dem Horrorfilm, begegnen. Sie haben noch nicht gelernt, die Sprache eines solchen Films zu entschlüsseln. Sie kennen die Typika nicht und verstehen deshalb den Film auch nicht vollständig. Begegnen Fremde solchen Filmen, kann zweierlei passieren: Entweder sind sie abgestoßen, finden schlimm und grässlich, was sie gesehen haben und unterschreiben eventuell am nächsten Tag eine Petition zum Verbot solcher Filme. Oder aber, sie finden irgendetwas daran interessant und beschäftigen sich damit. Dann könnten sie die zweite Ebene erreichen, die des Touristen. Touristen sind diejenigen, die an einem Genre etwas Interessantes finden, aber in erster Linie die emotionale Anregung suchen. Ihnen geht es weniger um die kognitive, schon gar nicht um die metatextuelle Ebene. Auf der Ebene des Touristen kann man nicht bleiben, denn irgendwann kennt man die Filme, durchschaut sie mit der eigenen kognitiven Kompetenz, und das hat in der Regel immer zur Folge, dass bereits bekannte Emotionen allmählich uninteressant werden. Also: Kenne ich den Horror- oder Actionfilm, finde ich die Aufregung daran nicht mehr interessant und bin nicht motiviert, diese Genres weiterhin zu nutzen. Wir verlangen daher nach mehr. Interessanterweise ist dieses Mehr jedoch nicht im schlichten Mehr an Blut und Gewalt zu finden. Eher schon in der Raffinesse der Inszenierung und einer Zunahme der Komplexität, unter anderem durch die Selbstreflexivität eines Genres und metatextuelle Verweise - denken Sie an „Scream“ und seinen Erfolg. Eben das ist es auch, was das Publikum, wenn es denn ein Genre weiter nutzt, in der Regel sucht. Das gewünschte Mehr findet sich durch eine zunehmende Gewichtung der kognitiven Ebene. Jetzt wird plötzlich wichtig, wie der dramaturgische Aufbau gemacht ist, wie die Special Effects funktionieren, welche Zitate aus anderen Filmen vorkommen und so weiter. Vogelgesang nennt die Gruppe, die sich dieser Rezeptionsebene zuordnet, die Buffs. Will man nun als schon sehr kompetenter Angehöriger dieser Ebene noch weiterkommen, könnte es sein, dass Zuschauerinnen oder Zuschauer anfangen, Fanzeitschriften herauszugeben, selbst darüber zu schreiben oder Filmkritik zu betreiben. Diese Gruppe nennt Vogelgesang Freaks.
Das Interessante an dieser „Karriereleiter“ ist, dass das, was normalerweise als Abstumpfung bezeichnet wird, in Wahrheit ein Wechsel der Rezeptionsebenen ist. Das spezielle Publikum eines Genres sucht nicht einfach nur nach Reizsteigerung, sondern nach komplexeren Rezeptionsformen. Für die Einschätzung von Wirkungen und auch für den Jugendschutz halte ich das für wichtig. Denn man kann jetzt umgekehrt damit rechnen, dass die häufigste Nutzung entsprechender Genres kaum bei den Fremden, auch nicht bei den Touristen, sondern in erster Linie bei den Buffs und den Freaks stattfindet - und, dass die Fremden und Touristen sich normalerweise weiterentwickeln, wenn sie weiter ihr Genre nutzen. Bei Buffs und Freaks aber muss mit einer anderen Ausstattung an Rezeptionskompetenzen gerechnet werden - also ist die Prüfleistung entsprechend auszurichten. Eine Filmbeurteilung aus dem Blickwinkel des Fremden hingegen ist unangebracht.
Das wirft natürlich eine weitere Frage auf: Was ist mit den wenigen Fremden, die sich solche Filme auch anschauen? - Keine Sorge, sie kommen damit schon zurecht. In der Regel werden sie sich eher von dem Film zurückziehen - oder sich weiterentwickeln. Macht das den Jugendschutz überflüssig? Nein, das meine ich nicht. Kinder und Jugendliche sind noch auf dem Weg, sich den Status ihrer Mündigkeit zu erarbeiten und ihre Kompetenzen auszubauen. Um dabei autonom zu handeln, brauchen sie Hilfestellung. Solange es noch nicht gelungen ist, den Film in ähnlicher Weise in den Bildungsgang einzubeziehen, wie wir das bei der Literatur und bildenden Kunst getan haben, bleiben uns daher kaum andere Instrumente, als die des institutionellen Jugendschutzes - der im übrigen ja nicht die einzige Form ist, wie sich Jugendschutz durchführen lässt. Dessen Ziel muss es in erster Linie sein, Rezeptionskompetenzen von Großgruppen einzuschätzen und Verehrungspotential für diese auszumachen, um Hilfestellungen durch Klassifizierungen geben zu können. Ich halte daher beispielsweise die Alterskennzeichnung von Filmen immer noch für wichtig. Auf lange Sicht aber wäre es nötig, dass Medien generell im selben Maß Teil des organisierten Bildungsgangs werden, wie Literatur und bildende Kunst. Der erste wichtigste Schritt wäre da meines Erachtens die Aufnahme des Films und verwandter Produkte in den Kanon der schulischen Gegenstände. Hier lassen die Lehrpläne immer noch zu wünschen übrig. Gelänge diese Aufnahme aber, wären wir vielleicht gegenüber Film und Fernsehen und der jugendlichen Nutzung beider ruhiger. Bemerkenswert immerhin ist ja, dass wir zwar die FSK, nicht aber eine FSL - Freiwillige Selbstkontrolle des Literaturbetriebs - kennen.
© 2001 Thomas Hausmanninger und TV Diskurs