Jüdisches Illertal

Das im September 2023 gestartete vom Bayerischen Wissenschaftsministerium geförderten Projekt „Jüdisches Illertal“ untersucht jüdisches Leben und jüdischen Alltag im Illertal. Von diesbezüglicher Relevanz sind dabei nicht nur größere Städte wie Kempten und Memmingen, sondern auch Kleinstädte, wie Altenstadt oder Orte wie Fellheim und Osterberg. Erforscht werden verschiedenste Aspekte und Zeugnisse jüdischen Lebens im Illertal: jüdischer Alltag, jüdisches Schulwesen, jüdisches Schrifttum und jüdisches Unternehmer- und Mäzenatentum. Die wichtigsten Ergebnisse, verschiedene ausgewählte Schlaglichter, werden in einem Buch zusammengetragen. Dieses soll 2025 veröffentlicht werden und auch dem Denkmal Bahnhof Fellheim zugutekommen.

 

Im Rahmen und anlässlich des Projektes werden in den relevanten Orten Experten und Expertinnen vor Ort angeleitet Erinnerungsspaziergänge zum früheren jüdischen Leben im Illertal zu entwickeln, die u. a. auch mit einen QR-Code digital abgerufen werden können.

 

Projektidee

Die Historikerin Dr. Veronika Heilmannseder baut seit einigen Jahren in Fellheim in der Nähe von Memmingen eine Gedenkstätte auf, die an die von Fellheim ausgehenden Deportationen schwäbischer Jüdinnen und Juden 1942 erinnert (Eröffnung Juli 2022, gefördert durch das Bayerische Kultusministerium, LEADER, Bezirk Schwaben, Stadt Memmingen, Schirmherr Staatsminister a.D. Josef Miller). Anlässlich dessen entstand die Idee, die jüdische Geschichte der Region insgesamt wissenschaftlich aufzuarbeiten. In Zusammenhang mit dem Bahnhof Fellheim sollte gezeigt werden, wie jüdische Personen und Gemeinden in Wechselwirkung mit Fürsten, Städten, Dörfern, später dem Staat Bayern und untergeordneten Körperschaften, die spezifische Entwicklung der Region vorantrieben.

 

Auch wie sie die Region mit der Landeshauptstadt München durch persönliche und wirtschaftliche Beziehungen verknüpften (z. B. Familie Jacques Rosenthal, Antiquar; gebürtig und aufgewachsen in Fellheim, königlich-bayerischer Hoflieferant, heute noch wertvolle, aus seinem Hause stammende Antiquariat und Handschriften im Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek). Das beinhaltet Handel, Bildung, Versorgung und Aufbau von wirtschaftlichen Einrichtungen, die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts einschließlich der Eisenbahn, das Entstehen eines bayerischen Bürgertums, Bau- und Kunstwesen, die Verfolgungen der NS- und Nachkriegszeit.

 

Die Prägung der Region durch ihre jüdische Bevölkerung ist sehr deutlich zu erkennen, muss aber in ihrer konkreten Ausgestaltung noch fundiert wissenschaftlich untersucht werden. Auch die Täterperspektive während der NS- und Nachkriegszeit ist ein Forschungsdesiderat. Der Forschungsantrag führte letztlich zum vom Bayerischen Wissenschaftsministerium geförderten Projekt „Jüdisches Illertal“.

 

Hintergrund

Das im Westen von Bayern liegende bayerisch-schwäbische Illertal zwischen Neu-Ulm und Kempten, ist eine Gegend herausragender und vielfältiger Geschichte. Dies erklärt sich auch von daher, dass durch die typisch schwäbischen Kleinstaaten unterschiedliche Herrschaftsträger und Personengruppen über Jahrhunderte in der Lage waren, der historischen Landschaft ein eigenes, auch in Bayern einzigartiges Profil zu verleihen. Seit dem 16. Jahrhundert lebten im Illertal auch viele Menschen jüdischen Glaubens. Viele der dortigen Herrschaftsträger standen der Ansiedlung von Juden mit Wohlwollen gegenüber, meist aus wirtschaftlichen Gründen. Vor dem Bayerischen Judenedikt (1813) existierte keine einheitliche Gesetzesregelung für Jüdinnen und Juden in den Städten, Dörfern und Marktgemeinden. In vielen Herrschaftsgebieten galt das System des ‚Schutzjudentums‘, durch das sich Personen jüdischer Herkunft unter dem Schutz eines Herrschers in bestimmten Gebieten ansiedeln durften. Im Gegenzug mussten sie dafür hohe Abgaben an die Landesherren leisten. Hinter diesem System verbargen sich jedoch regional unterschiedliche Lebensrealitäten. Verbunden damit entwickelte sich im Illertal eine vielfältige jüdische Alltagskultur, die bis heute noch immer wenig wissenschaftlich erforscht und dokumentiert ist.

 

Tatsache ist, dass die jüdische Bevölkerung das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben in Schwaben und im Illertal über Jahrhunderte maßgeblich mitprägte. Durch die von Kirche und Staat auferlegten beruflichen Restriktionen waren die jüdischen Einwohner gezwungen, auf solche Berufe auszuweichen, deren Ausübung ihnen erlaubt war. Hierzu zählten vorrangig der Handel mit Vieh und Waren sowie das Geld- und Kreditgeschäft. Dies lag darin begründet, dass der Zugang zu Handwerksberufen, die sich zu christlichen Zünften zusammengeschlossen hatten, der jüdischen Bevölkerung ebenso verwehrt war wie großteils die Landwirtschaft mit ihrem christlichen Lehenseid. Als 1861 der Matrikelparagraf des Judenedikts von 1813 aufgehoben wurde, der bis dahin eine bestimmte Anzahl von jüdischen Haushalten für einen Ort festgelegt hatte, durften Personen jüdischer Herkunft ihren Wohnort frei wählen. Dies führte zu ihrer Abwanderung aus kleineren Dörfern in die nächstgrößeren Städte. Mit der rechtlichen Gleichstellung durch das Reichsgesetz 1871 besserte sich auch ihre berufliche und wirtschaftliche Situation.

 

Im 19. Jahrhundert entwickelten sich durch die voranschreitende Industrialisierung Textilgewerbe und -handel zu weiteren bedeutenden Berufsfeldern für die jüdische Bevölkerung. Zudem gründeten jüdische Händler und Kaufleute eine Vielzahl von Kaufhäusern und Fabriken zur Produktion unterschiedlichster Waren. Die jahrhundertelang fortgeführte Handelstradition erwies sich schließlich als optimale Vorbereitung auf die Anforderungen der modernen Industriegesellschaft. Tatsächlich haben viele Orte und Städte in Bayerisch-Schwaben ihren wirtschaftlichen Aufschwung im 19. Jahrhundert dem Warenhandel, den Gewerbebetrieben und Unternehmen zu verdanken, die von jüdischen Inhabern und Inhaberinnen gegründet und geführt wurden. Somit trugen diese zum wirtschaftlichen Erfolg und zur Modernisierung der gesamten Region entscheidend bei. Aus dem Illertal stammen jedoch auch zahlreiche jüdische Unternehmer, Unternehmerinnen sowie ganze Unternehmerfamilien von überregionaler Bedeutung: Textilhändler und Textilfabrikanten wie Guggenheimer und Günzburger aus Memmingen, das Bankhaus Ullmann in Kempten, das Bankhaus Marx in Altenstadt, die Unternehmerfamilie Binswanger mit ihrer in Osterberg gegründeten Likör- und Essigfabrik Jacob Binswanger & Cie. oder die berühmte Antiquariatsfamilie Rosenthal aus Kempten.

 

Religiöse Konflikte waren vor der Machtübernahme der Nazis im Illertal eine Seltenheit. Stattdessen lebten Menschen jüdischen und katholischen Glaubens weitgehend harmonisch miteinander. Es kam beispielsweise vor, dass der Vorsitzende im Fußballverein Jude war und sein Stellvertreter Christ, oder auch umgekehrt. Oder dass ein Haus von einem jüdischen zu einem christlichen Besitzer wechselte. Es gab daher auch meist keine streng nach Glauben getrennten Viertel oder Ghettos. Anders sah es mit den Volksschulen aus. Aufzeichnungen in den Archiven geben einen detaillierten Einblick in das Leben an jüdischen Volksschulen.

 

Nach Jahrhunderten blühender jüdischer Kultur und einem weitgehend friedlichen Zusammenleben zwischen Christen und Juden führte die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 zu einem Zivilisationsbruch. Nach 1933 wurden aus Mitbürgern Außenseiter später Verfolgte. Alle von jüdischen Inhabern und Inhaberinnen betriebenen Unternehmen waren seit 1933 von den wirtschaftlichen Restriktionen der Nationalsozialisten betroffen, die zu einschneidenden Umsatzrückgängen führten. In der Pogromnacht am 9. November 1938 kam es auch im Illertal zu gewalttätigen Übergriffen. Juden wurden enteignet, ihr Besitz „arisiert“. Spätestens bis 1939 wurden die Unternehmen durch die Nationalsozialisten enteignet und zwangsweise verkauft. Manchen gelang die Flucht ins Ausland. Andere wurden vom Bahnhof in Fellheim in die Vernichtungslager in Osteuropa deportiert.

 

In Orten wie Altenstadt an der Iller, in Fellheim oder Osterberg, aber auch in Kempten und Memmingen, sind viele der ursprünglich von Juden erbauten Häuser und Gebäude bis heute erhalten geblieben. Die Mehrzahl der Synagogen im Illertal hat die Nazizeit allerdings nicht überstanden. Im gesamten Illertal wohnen bis heute so gut wie keine Menschen jüdischen Glaubens mehr.

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