Die Nationalsprache der Juden oder eine jüdische Sprache? Die Fragen der Czernowitzer Sprachkonferenz in ihrem zeitgeschichtlichen und räumlichen Kontext
Gibt es so etwas wie eine jüdische Nationalsprache und wenn ja, welche ist das? Jiddisch, Hebräisch oder beide? Die Frage nach der Nationalsprache löste nicht nur auf der Czernowitzer Sprachkonferenz große Diskussionen aus, sondern wurden auch noch lange nach der Konferenz in verschiedenen Sprachen diskutiert. Ausgehend von diesen und anderen wichtigen Fragen auf der Sprachkonferenz wird im Rahmen des Projekts die Debatte um „jüdische“ Sprachen im frühen 20. Jahrhundert nachvollzogen. Wichtig ist uns dabei, die innerjüdische Debatte im Kontext der anderen europäischen Nationalismen zu betrachten. Das Projekt wird geleitet von den literatur- und sprachwissenschaftlichen Professuren von Bettina Bannasch und Alfred Wildfeuer und koordiniert von Dr. Carmen Reichert. Kooperationspartner sind die Juniorprofessur für Ostmitteleuropäische Geschichte (Prof. Dr. Maren Röger), das Bukowina Institut Augsburg sowie die Jiddisch-Dozentur der Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur an der LMU München (Dr. Evita Wiecki). Projektpartner sind die germanistischen Institute der Universitäten Tscherniwzi (in Kooperation mit dem dort angesiedelten Zentrum GEDANKENDACH) und Plzeň (in Kooperation mit dem dortigen Zentrum für Interregional-Forschung). Das Projekt wird gefördert von der Beauftragen der Bundesregierung für Kultur und Medien.
Das Projekt
Der Moment, in dem die Teilnehmer – und wenigen Teilnehmerinnen – der ersten internationalen Sprachkonferenz für Jiddisch sich im Herbst 1908 in Czernowitz darauf verständigten, Jiddisch zu einer nationalen Sprache der Juden zu erklären, gilt als wichtiger Durchbruch für die Entwicklung des Jiddischen. Diese Erklärung ist zugleich einer der Höhepunkte in der Frage, die sich in Österreich-Ungarn und seinen Nachbarstaaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte: Waren die Juden eine Nation? Besaßen sie eine oder mehrere nationale Sprachen? Gab es eine jüdische Nationalliteratur und wenn ja, in welche(n) Sprache(n) war sie verfasst? Was konnte oder sollte getan werden, um das Jiddische und/oder Hebräische zu fördern und auszubauen?
Die Frage nach den/der jüdischen Sprache(n) und Literatur(en) wurde auf Jiddisch wie auf Hebräisch, Deutsch und in zahlreichen anderen Sprachen Europas diskutiert. Ziel des Projekts ist es, die in der Forschung zumeist getrennt betrachteten Diskurse um nationale (jüdische) Sprachen im Europa des frühen 20. Jahrhunderts zusammenzubringen. Dieser neue, interdisziplinäre Blick auf ein Ereignis in der Bukowiner Hauptstadt Czernowitz erlaubt es außerdem, das Zusammenwirken jiddischer und deutschprachiger Intellektueller bei der Veranstaltung der Czernowitzer Sprachkonferenz nachzuvollziehen.
Auch zentrale Argumente und Ideen in der Debatte zeugen von einem regen Ideenaustausch über die Sprachgrenzen hinweg. In den Literaturen ist die Mehrsprachigkeit Österreich-Ungarns nicht nur Zeit- und Lokalkolorit, sondern ein zentrales Thema, das sich durch die verschiedenen Sprachen und literarischen Gattungen zieht. Ein besonderer Fokus des Projekts liegt auf den deutsch- und jiddischsprachigen literarischen Arbeiten von Autorinnen, die in den öffentlichen Debatten unterrepräsentiert sind, sich aber in ihren literarischen Werken auf unterschiedlichste Weise positionieren und auf diese Weise in die Diskurse einschreiben.
Vorträge von der Abschlusstagung und aus den Workshops werden voraussichtlich im Winter 2021/22 in einem Tagungsband erscheinen.
Tagung "Zukunft der Sprache – Zukunft der Nation? Debatten um jüdische Sprache und Literatur im Kontext von Mehrsprachigkeit"
Sprache hat seit Mitte des 18. Jahrhunderts eine wesentliche Bedeutung im Diskurs über sozialen und kulturellen Wandel der Juden in Europa (Sander L. Gilman/Stephan Braese). Mit dem Erstarken nationaljüdischer Bewegungen Ende des 19. Jahrhunderts rückte die Sprachenfrage ins Zentrum des politischen Interesses. Die gegenwärtige Situation – die bereits zu diesem Zeitpunkt von einigen als gescheitert betrachtete Emanzipation und Integration, der anhaltende Antisemitismus, die Nichtanerkennung von Jiddisch und Hebräisch als nationale Sprachen der Juden in Österreich-Ungarn – empfanden viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen als defizitär. Entsprechend entwickelten sie Strategien, die jüdischen Sprachen und ihre Literaturen auszubauen oder, wie Dan Miron es für Scholem Alejchem formulierte, aus einer „littérature mineure“ eine „littérature majeure“ zu machen.
Dabei war die jüdische Nation bei weitem nicht die einzige, die in Europa um Anerkennung ihrer Nationalität und ihrer Sprache(n) rang. Die jüdischen Nationalbewegungen kamen im Vergleich zu den Nachbarn sogar eher spät: Die polnische Freiheitsbewegung, die Sokolbewegung in Böhmen und Mähren und die ukrainische Nationalbewegung waren zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahrzehnte alt, hatten aber ihre Ziele noch immer nicht erreicht.
Die erste Hochphase des Zionismus, die auf den ersten Zionistenkongress folgt, fällt in eine Zeit der großen Hoffnungen und Ideen in Europa. „Wer die Zukunft vorbereitet, muß über die Gegenwart hinwegblicken können“ lautet die Sentenz, mit welcher Theodor Herzl den Maler Robert die Binnenerzählung in seiner Erzählung „Das lenkbare Luftschiff“, das eine Allegorie auf seinen Judenstaat ist, beschließen lässt. Ausgerechnet Herzl, der der große Ideengeber und Grundsteinleger des modernen jüdischen Staates im Land Israel war, hatte im Gegensatz zu seinen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen in Mittelost- und Osteuropa und auch im Gegensatz zu den frühen deutschsprachigen Kulturzionisten die Sprachenfrage nicht im Blick.
Indes setzten zwei andere Idealisten große Meilensteine für die Entwicklung der jüdischen Sprachen: Während in Jerusalem Eliezer Ben Yehudas Sohn als erster moderner hebräischer Muttersprachler heranwuchs, plante der Wiener Jude Nathan Birnbaum die erste große jiddische Sprachkonferenz, auf der er Jiddisch als Nationalsprache ausrufen wollte. Birnbaum und Ben Yehuda, aber auch deutsche Kulturzionisten setzten darauf, dass die kommenden Generationen eine nationale jüdische Sprache haben und diese selbstverständlich für Literatur und Alltagsleben verwenden würden. Die unsichere politische Entwicklung in Europa und der Glaube an die Wirkmacht von Literatur und Dichtung brachten eine neue Art zionistischer und diasporanationalistischer Literatur hervor, die nicht selten Zukunftsutopien und Vorstellungen von neuen Juden und einer neuen Gesellschaft enthielten.
Ziel der Tagung, die sich explizit auch an Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler richtete, war es, die Debatte um jüdische Nationalsprachen und -literaturen im frühen 20. Jahrhundert im Kontext ihrer Umgebungssprachen und der anderen mittel- und osteuropäischen Nationalismen zu verstehen. Dabei wurde das Augenmerk auch auf den bisher vergleichsweise schlecht erforschten Bereich des Schulwesens und der Kinder- und Jugendliteratur gelegt.
Terminüberblick
9. Mai 2018, 18. 30 Uhr s.t. Podiumsdiskussion in Augsburg
Stadt- und Literatursprachen in der Bukowina und Galizien
Es diskutierten Dr. Natalia Blum-Barth (Universität Mainz) und Dr. Stefaniya Ptashnyk (Heidelberger Akademie der Wissenschaften)
Einführung: Carmen Reichert (Universität Augsburg)
Moderation: Dr. Enikő Dácz (IKGS München)
Kooperationsveranstaltung mit dem Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München und dem Bukowina Institut an der Universität Augsburg.
7. – 9. November 2018: Workshop 1 in Tscherniwzi (Czernowitz)
Kulturnationen im Vielvölkerstaat? Zur Bedeutung des deutschen Idealismus für die Nationalbewegungen in Österreich-Ungarn.
Jüdische Nationalbewegungen haben, wie andere späte Nationalismen in Mittel- und Osteuropa, Theoreme, literarische Formen und Argumente aus dem deutschen Idealismus und der Romantik aufgenommen und weiterentwickelt. Nicht immer erfolgte diese Rezeption bewusst; häufig ist sie Folge einer Vermittlung über andere Autor_innen. Wir diskutieren die Möglichkeiten und Grenzen, die das Einbringen idealistischer und romantischer Argumentationen im Nationalitätendiskurs des frühen 20. Jahrhunderts mit sich bringt und setzen uns mit literarischen Versuchen, nationale Literaturen zu befördern oder sich ihnen entgegen zu stellen, auseinander.
Einführungsvortrag: Petr Rychlo (Czernowitz)
Abendvortrag: Bettina Bannasch (Augsburg)
Tagungsbericht
14. – 15. März 2019: Workshop 2 in Plzeň (Pilsen)
Vos helft ir nisht boyen dem templ fun frayhayt un mentshlekhn glik? Zum Beitrag von Autorinnen, Politikerinnen und Philosophinnen zur Diskussion um Sprache und Nation in Mittel- und Osteuropa
Im Europa des frühen 20. Jahrhunderts sind Frauen, die politische Debatten wie die um Sprache und Nation mitbestimmen, mehr Ausnahme als Regel. Gerade in dieser Zeit aber erkämpfen sich Frauen immer mehr Wirkungsräume. Gerade die Literatur ist für viele eine gesellschaftlich besser akzeptierte Möglichkeit sich zu äußern als parteipolitisches Engagement. Erstaunlich ist, dass viele der politisch aktiven Frauen erst in den letzten Jahren von der Forschung wahrgenommen werden. Wir untersuchen den Beitrag jüdischer Autorinnen, Politikerinnen und Philosophinnen zur Sprachdebatte und fragen nach genderspezifischen Argumenten in der Argumentation für die eine oder die andere Sprache.
Abendvortrag:
Elissa Bemporad (New York): Intersection of language, gender and class in the work of Ester Frumkin
Ester Frumkin became one of the most prominent Jewish female political activists and journalists in late Imperial Russia and in the early Soviet Union. By focusing on two major works by Frumkin (On the Question of the Jewish Primary School and Down with the Rabbis!), this talk will explore the ways in which gender, class, and ethnicity shaped her desire for radical change for Jews and for Russia.
4. – 5. Juni 2019: Workshop 3 in Augsburg
Die Czernowitzer Sprachkonferenz. Ihre Rezeption in Feuilleton und Literatur, in pädagogischen und didaktischen Schriften, in Lehrbüchern und in (Debatten über) Kinder- und Jugendliteratur
Die Erste Jiddische Sprachkonferenz von 1908 wurde nicht nur auf Jiddisch, sondern auch in den umgebenden Sprachen Österreich-Ungarns, die sich z.T. in ähnlichen Status-Diskussionen befanden, wahrgenommen und diskutiert, wobei sich die Bewertung der Konferenz (auch in der innerjiddischen Diskussion) durch aktuelle politische Diskussionen veränderte. Der in seiner Bedeutung für das Jiddische insgesamt umstrittene Erfolg der Konferenz liegt u.a. in der Anregung neuer Projekte von großer kultureller und kollektiver Bedeutung, unter denen auch didaktische Schriften und Literatur für Kinder eine wichtige Rolle spielen.
Einführungsvortrag: Maren Röger (Augsburg)
Abendvortrag:
Keith Weiser (Toronto):'Barg aroyf' or 'Up Hill'?: Max Weinreich and the changing meaning of the First Yiddish Language Conference in Czernowitz, 1908-1958
Max Weinreich was not present at the First Yiddish Language Conference in Czernowitz in 1908. Yet, Weinreich, a precocious high school student writing for the Jewish and German presses in the Russian empire, quickly recognized it as a milestone in the history of the emerging Yiddish language movement. Its anniversaries prior to World War II provided him an occasion to consider Czernowitz as a symbol and to take periodic measure of the progress of secular Yiddish culture since then.
For Weinreich, a refugee scholar in New York City, Yiddish was moving “barg-aroyf” in 1908, ascending toward an ever brighter future in eastern Europe as the irrepressible language of the Jewish present. But it was painfully apparent that Yiddish was instead travelling “ophil” (uphill) in 1958, marginalized by its own supporters and swimming against the current of Jewish life everywhere. Yet, this did not mean that Yiddish had lost its relevance. On the contrary, he passionately argued, it was perhaps more important than ever for assuring the future of Jews as both individuals and as a collective
24. – 26. September 2019: Abschlusstagung in Augsburg
Zukunft der Sprache - Zukunft der Nation? Debatten um jüdische Sprache und Literatur im Kontext von Mehrsprachigkeit und Nationbuilding
Keynote:
Efrat Gal-Ed: Das Land Jiddisch
Im Warschau des Jahres 1922 reflektierten jiddische Dichter der avantgardistischen Zeitschrift Albatros ihr „Umherirren in verschiedenen Zentren ihrer jüdischen Exterritorialität“. Damit beklagten sie, den Begriff wortwörtlich denkend, ihre zerstreute jüdische Existenz außerhalb eines eigenen Territoriums. Fünf Jahre später, als 1927 die staatenlose jiddische Literatur Mitglied des Internationalen PEN-Clubs wurde, erfuhr diese existenzielle Exterritorialität eine kühne aufwertende Umdeutung in der Wortschöpfung ‚Jiddischland‘. Die Bürger der neuen Wortrepublik sprachen Jiddisch, teilten einen transnationalen Denk- und Lebensmodus und entwarfen ein völkerübergreifendes Bild von Europa, das nicht den Vorstellungen der herrschenden Nationalkulturen entsprach.
Call for papers
Allgemeine Informationen
Projektleitung: Prof. Dr. Bettina Bannasch, Prof. Dr. Alfred Wildfeuer
Koordinatorin: Dr. Carmen Reichert
Laufzeit: 2018 – 2021
gefördert durch:
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