Die Physis der Sprache. Stilpraxis bei Nietzsche und Brecht
Die literaturwissenschaftliche Stilistikforschung der letzten Jahrzehnte steht nicht nur im Schatten einer zumeist empirisch verfahrenden Linguistik, sie hat im Bereich der stilistischen Produktions- und Rezeptionsästhetik einen wesentlichen Aspekt der literarischen Moderne vernachlässigt. Stil als Wahrnehmung und Erlebnis von Mimik und Gestik, die weit über das Medium Schrift hinausreichen, kennzeichnet zentrale literarische Werke, die sich einer anti-idealistischen Sprachauffassung verschrieben haben. Sprache als Physis zu begreifen und zu inszenieren lässt sich im Spannungsbogen von Nietzsche bis Brecht nicht nur philologisch rekonstruieren, sondern auch einer theoretischen Systematisierung unterziehen. Dabei stehen zunächst antike Konzepte von Körpersprache zur Verfügung (Quintilian, Lukian), die als wirkmächtige Vorbilder fungieren. Die von Nietzsche und Brecht entwickelten literarischen Rollenbilder geben weiterhin einen wichtigen Einblick: Im Clown bei Brecht und im Narren und Possenreißer bei Nietzsche zeigen sich zentrale Aspekte einer Körpersprache ebenso wie im Beter und Prediger oder im Soldaten (vgl. die einflussreiche Feldherrnprosa) und Bürokraten. Sprache als Physis führt damit insbesondere Phänomene der Gattungsinterferenzen vor Augen, die in Brechts Prosa und Nietzsches Trauerspiel-, Schauspieler- oder auch (Kirchen-)Liedkonzepten aufgezeigt werden können. Zentrale Bedeutung soll übergreifend eine ideologiekritische Lesart in den Stilanalysen haben, die eine Offenlegung der theoretischen Fundierung der Stilauffassungen einfordert.