Gummi als Erfindung Indigener Völker Südamerikas

Am 24. Mai 2024 wurde in Genf ein neuer Vertrag über Intellectual Property, Genetic Resources and Associated Traditional Knowledge nach jahrzehntelangen Verhandlungen geschlossen. Dieser Vertrag hat den Zweck, die kognitiven Beiträge indigener Gemeinschaften zum Beispiel bei der Entwicklung neuer Medikamente klarer anzuerkennen. Ausgehandelt wurde er von der WIPO (World Intellectual Property Organisation), einer Organisation der Vereinten Nationen. Dass dieses Thema auch eine kulturelle und historische Dimension hat, zeigt eine soeben bei Cambridge University Press publizierte Untersuchung des Augsburger Philosophen und Chemikers Jens Soentgen. Soentgen hat sich mit der Geschichte des Materials Gummi befasst. Gummi zählt aufgrund seiner Elastizität, seiner Wasserundurchlässigkeit und auch seiner Eigenschaften als Isolator zu den wichtigsten Substanzen, die industriell hergestellt werden. Automobile etwa sind undenkbar ohne diese Substanz, denn ein Auto kann, wie die Elektrofahrzeuge zeigen, durchaus ohne Benzin oder Diesel fahren, nicht aber ohne Gummi, und auch Flugzeuge, Raumfähren, Unterseeboote und Fahrräder brauchen Gummi. Auch in der Medizintechnik und in der Elektrotechnik ist Gummi nach wie vor in vielen Bereichen unersetzlich.

Soentgen geht zunächst auf die herkömmliche Gummi-Geschichtsschreibung ein. In dieser findet sich, wie er zeigt, durchgehend das Stereotyp, dass erst ein von dem US-Amerikaner Charles Goodyear 1844 patentiertes Verfahren namens Vulkanisation, bei dem Schwefel und Hitze zusammenwirken, aus dem Gummi ein brauchbares Produkt gemacht habe. Der von indigenen Völkern hergestellte Kautschuk sei hingegen für alle praktischen Zwecke unbrauchbar gewesen sei, weil er in der Kälte brüchig, in der Hitze aber klebrig geworden sei und überdies rasch schimmelte. Mithin begann in diesem Erzählschema die Geschichte des Gummis erst mit Charles Goodyear. Soentgen zeigt, dass dieses Narrativ in jeder Hinsicht falsch ist. In seinem in der Reihe Elements of Environmental Humanities erschienenen Buch Indigenous Knowledge and Material Histories: The Example of Rubber weist er nach, dass die Indigenen Völker Südamerikas vielmehr einen mehrstufigen Räucherungsprozess kannten, der den Ausgangsstoff, nämlich den Hevea Brasiliensis gewonnenen Milchsaft chemisch so umwandelt, dass ein haltbares, elastisches Produkt entsteht. Soentgen nennt diesen Prozess, den er anhand historischer Quellen rekonstruiert hat, organische Vulkanisation. Grundlage seiner Studie sind Berichte der Conquistadoren und später Berichte von Reisenden, die einen Zeitraum von ungefähr 1500 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts umspannen. Schon Christoph Kolumbus nahm auf seiner zweiten Amerikareise einen Gummiball mit und brachte ihn nach Sevilla; Bartolomé de las Casas berichtet ausführlich über die indigenen Gummiprodukte. Der chemische Prozess, der zur Optimierung und Stabilisierung des Materials führt, lässt sich auf der Grundlage modernen Wissens über die Chemie der Räucherung gut erklären. Dabei wird der Rauch, den bestimmte Nüsse erzeugen, wenn sie in einem Lagerfeuer bei kleiner Flamme verbrannt werden, verwendet, um das Polymer zu stabilisieren und zu konservieren. Das so behandelte Gummiprodukt, zum Beispiel ein Gummialligator, ein Gummistiefel oder ein Gummiring – alles Produkte, die in Südamerika, ausgehend von Amazonien, seit vielen Jahrhunderten von indigenen Völkern hergestellt wurden und hier und da immer noch werden, ist stabil und haltbar. Heute noch ist das Räuchern eine industrielle Technik der Vorbehandlung von Kautschukprodukten.

Soentgen, der vor seiner Tätigkeit in Augsburg an verschiedenen Universitäten in Brasilien tätig war, weist nach, dass ohne diese organische Vulkanisation, die eine indigene Erfindung ist, die moderne Geschichte des Gummis nie begonnen hätte. Die Leistung Goodyears und anderer Chemiker bestand danach darin, eine Alternative zu diesem effizienten und ingeniösen Verfahren entwickelt zu haben, nämlich die Vulkanisation mit Schwefel.

Die Studie zeigt, dass der intellektuelle Anteil indigener Völker an der modernen Polymertechnologie weitaus größer ist als bislang angenommen. Soentgens Beitrag lädt dazu ein, die Geschichte des Kautschuk und damit einen wichtigen Teil der modernen Technikgeschichte neu zu schreiben und ist ein Beispiel für Technik- und Wissenschaftsgeschichte aus postkolonialer Perspektive.

 

 

Links:

WIPO-Artikel zum neuen Vertrag: https://www.wipo.int/pressroom/en/articles/2024/article_0007.html

Link zum Buch von Jens Soentgen: https://www.cambridge.org/core/elements/indigenous-knowledge-and-material-histories/16CD0F80ED56660E9194ECBF8DEEC781

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