Exkursion im Wintersemester 2024/25 an die Universität Pilsen: „Traumcafé Europa“? Entwurf eines friedlichen Europas vor dem Hintergrund der Erinnerung an die Schrecken des 20. Jahrhunderts: Das Werk Lenka Reinerovás

Gruppenbild Pilsen 2024
© Universität Augsburg
Deutsch-Französisches Jugendwerk (DFJW)

Die Journalistin und Schriftstellerin Lenka Reinerová, 1916 in Prag geboren und 2008 gestorben, gilt als die letzte grande dame der sogenannten Pragerdeutschen Literatur. Das Seminar „Traumcafé Europa“? Entwurf eines friedlichen Europas vor dem Hintergrund der Erinnerung an die Schrecken des 20. Jahrhunderts: Das Werk Lenka Reinerovás befasste sich mit ausgewählten Erzählungen, die an die literarische Welt des deutschsprachigen Prag erinnert, in der sich auch Franz Kafka und Rainer Maria Rilke bewegten. Mit dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Prag 1938 ging sie unter. Für Lenka Reinerová, Jüdin und Kommunistin, bedeutete es Flucht und Exil.

Das Seminar fand im Rahmen einer trilateralen Kooperation der Universitäten Augsburg, Pilsen und Toulouse statt. Es befasste sich mit Reinerovás Werk unter dem Fokus „Friedenspädagogik und Erinnerung“. Es wurden ausgewählte Erzählungen und Romane Lenka Reinerovás diskutiert; in viele von ihnen sind ihre Lebenserfahrungen eingegangen. Erinnerungen an das Prag der 1930er Jahre enthalten die Erzählung Das Traumcafé einer Pragerin und das „Bekenntnis“ Närrisches Prag, die Zeit der Verfolgung thematisieren Kein Mensch auf der Straße und Der Ausflug zum Schwanensee, vom Exil berichtet die reflektierende Rückschau in der Erzählung Zweite Landung in Mexiko, an die Jahre des Kommunismus und des Slánský-Prozesses in den 1950er Jahren erinnert das Buch Alle Farben der Sonne und der Nacht.

 

Vom 07. bis zum 12. November 2024 fand die Exkursion nach Pilsen statt und alle Studierenden trafen sich am ersten Tag zu einer literarischen Stadtführung durch Pilsen. Danach schilderte Dr. Petr Kučera (Westböhmische Universität Pilsen) in seinem Eröffnungsvortrag Deutschsprachige Literatur Prags im kulturgeschichtlichen Kontext die jahrhundertelange Entwicklung des Prager Judentums und der Prager deutschsprachigen jüdischen Literatur, an die Lenka Reinerová dann im 20. Jahrhundert in mancher Hinsicht anknüpfte. Dabei distanzierte er sich von der heutigen Tendenz in der Forschung, von einer „Prager deutschen Literatur“ statt einer „deutschsprachigen“ zu sprechen.

 

Der Einstieg in das Seminargespräch erfolgte am zweiten Tag mit einem Austausch darüber, was von Lenka Reinerovás Leben und Werk in den einzelnen Ländern, die an dem Workshop beteiligt waren, bekannt ist. Die drei Studierendengruppen stellten hier ihre Ergebnisse vor. Es zeigte sich, dass sie vor allem als die grande dame der deutschsprachigen Literatur Prags und als Zeitzeugin in der Literaturgeschichte bekannt ist, nicht so stark aber als eine eigenständige Autorin literarischer Texte wahrgenommen wird. Aus dieser Erkenntnis leiteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Aufgabe ab, im Rahmen des Workshops zu prüfen, welche Texte Reinerovás sich für die Vermittlung insbesondere in Schulen eignen könnten, und welche Vorschläge für Unterrichtseinheiten von einer Schulstunde erarbeitet werden könnten, die geschichtliche mit literaturwissenschaftlichen Aspekten verknüpfen, also danach fragen, welche narrativen Verfahren eingesetzt werden, um historisches Wissen und lebensgeschichtliche Erinnerungen in Literatur zu ‚übersetzen‘ und damit besser zugänglich zu machen.

Es folgten vier Lehreinheiten, die sich den wesentlichen Phasen widmeten, die sich für das Leben Lenka Reinerovás auf der Grundlage ihrer literarischen Erinnerungsschriften (re)konstruieren lassen: 1. Kindheit bzw. Rückblicke auf und Reflexionen über die ‚Prager Kreise‘, die das literarische Leben Prags in ihrer Kindheit bestimmten, 2. Zusammenarbeit mit Autorinnen und Autoren, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohen waren und eigene Erfahrungen der Verfolgung durch die Nationalsozialisten bzw. Erinnerungen an die Familienangehörigen, Freunde und Bekannten, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden, 3. Flucht über Frankreich nach Mexiko; hier wurde der Akzent auf die Jahre in Mexiko gelegt, da sich die 2. Phase des Projekts intensiv mit den Lagererfahrungen Lenka Reinerovás und ihres späteren Mannes Theodor Balk befassen wird, 4. Leben nach der Remigration in Prag in den Jahren des ‚Eisernen Vorhangs‘ und danach. Die vier Lehreinheiten waren an den drei Standorten in mehreren Sitzungen durch die gemeinsame Lektüre und Diskussion der ausgewählten Texte vorbereitet worden. Sie wurden von den Augsburger Studierenden in Impuls-Präsentationen noch einmal zusammengefast. Im Anschluss daran erfolgte eine gemeinsame vertiefende Textarbeit in trilateralen Arbeitsgruppen.

Der dritte Tag führte uns mit dem Zug nach Prag, zum Lebensmittelpunkt der Autorin. Schon im Zug und während der Fahrt wurde durch die Platzierung in verschiedenen Abteilen, die Möglichkeit gegeben sich untereinander besser kennenzulernen. In Prag angekommen hatten wir zunächst die Gelegenheit, an der Philosophischen Fakultät der Prager Karlsuniversität einen Vortrag zu Reinerovás politischen Aktivitäten im Zuge ihrer Remigration nach Prag zu hören. Der Historiker Ondřej Vojtěchovský hielt einen eigens für die Seminargruppe konzipierten Vortrag zum Thema Lenka Reinerovás kommunistisches Engagement nach dem 2. Weltkrieg. Der Vortrag gab erhellende Einsichten in Reinerovás Entscheidung, nach dem Exil in Mexiko zunächst nach Bukarest zu gehen, in die Heimatstadt ihres Mannes Theodor Balk, dann aber mit ihrer Familie – ihrem Mann und der inzwischen zur Welt gekommenen Tochter – wieder nach Prag zurückzukehren. Diese Entscheidungen wurden im Zusammenhang mit der sich verändernden politischen Situation – Titos ‚Sonderweg‘ – im damaligen Jugoslawien nachvollzogen. In Prag war Reinerová für die Personen zuständig, die ebenso wie sie und ihre Familie Jugoslawien verlassen hatten. Sie verfasste Berichte, die in insgesamt dreißig Karteikästen aufbewahrt und für die Forschung zugänglich sind. Ondřej Vojtěchovský, der diese Berichte vollständig gesichtet und ausgewertet hat, gab uns mit seinem Vortrag wertvolle Einblicke in die politische und ‚literarische‘ Arbeit Lenka Reinerovás in diesen Jahren. Der Vortrag ergänzte in zweifacher Hinsicht das bisher Erarbeitete. Erstens liegt eine umfangreiche Studie Ondřej Vojtěchovskýs, die sich diesem Thema widmet, bisher nur in tschechischer Sprache vor. Der Vortrag, der für uns in englischer Sprache gehalten wurde, fasste die wichtigsten Ergebnisse der Studie zusammen. Er vermittelte die außerordentlich komplexen politischen und historischen Zusammenhänge sehr gut nachvollziehbar auch für die Studierenden. Der Vortrag ergänzte zweitens die biografischen Informationen, die Lenka Reinerová selbst in ihren Erinnerungstexten gibt. Dort nämlich bleiben jene Jahre weitgehend ausgespart und werden höchstens schemenhaft angedeutet. Für das Seminar, das sich bisher überwiegend aus literaturwissenschaftlicher Perspektive den Texten Reinerovás angenähert hatte, stellten die durch den Vortrag vermittelten Informationen und Einsichten somit eine außerordentlich wertvolle Ergänzung dar.

Im Anschluss an den Vortrag führte uns Hélène Leclerc durch das Prag Lenka Reinerovás. Es konnten eine Vielzahl der Orte besichtigt werden, auf die wir am Tag zuvor in den literarischen Texten gestoßen waren. Die literarische Stadtführung gab außerdem Gelegenheit zu einigen Seitenblicken auf weitere promiente und für das Werk Reinerovás wichtige Autoren der deutschsprachigen Literatur Prags. Besichtigt wurden so etwa auch das Geburtshaus Franz Kafkas, das Elternhaus Egon Erwin Kischs u.a. Der Abschluss des literarischen Stadtspaziergangs endete stilgerecht im Künstlercafé Slavia, in dem auch Lenka Reinerová häufig verkehrte.

Den Auftakt für die Gruppenarbeiten am vierten Tag bildete ein Vortrag Markéta Balcarovás zum Thema Die Popularität und Poetologie der Erinnerungstexte Lenka Reinerovás. Er widmete sich zentralen Aspekten der Poetik der literarischen Texte Reinerovás, die – was Aufbau und Stil betrifft – erkennbar von ihrem journalistischen Schreiben beeinflusst sind (kontrastive Schreibweise, leitmotivisches Schreiben). Thematisch knüpfen sie mit vielfachen intertextuellen Bezugnahmen an die berühmte Ära der sog. Prager deutschen Literatur an.  

Im Anschluss an den Vortrag und unter Bezugnahme auf das an den Tagen zuvor Gehörte und Erarbeitete wurden in der anschließenden Diskussion im Plenum gemeinsam die Leitfragen für das zu erarbeitende Unterrichtsmaterial entwickelt. Nach intensiver Diskussion, in der unterschiedliche Möglichkeiten geprüft wurden, fiel die Entscheidung, an die Struktur der bereits vorhandenen Präsentationen anzuknüpfen, diese durch das Gelernte zu ergänzen, weiter auszudifferenzieren und schließlich Formate zu entwickeln, die im Schulunterricht sowie in einführenden Proseminaren an der Universität eingesetzt werden können. Die Studierenden konnten sich je nach Interessenlage einer der insgesamt fünf trinationalen Arbeitsgruppen zuordnen. Die Gruppenarbeit erfolgte intensiv, sie wurde von den Dozentinnen punktuell begleitet. Parallel zur Gruppenarbeit der Studierenden bereiteten die Dozentinnen die zweite Phase der Antragstellung vor, die nun konzeptionell auf die erste Phase noch einmal genauer abgestimmt wurde. Für die Präsentation und Diskussion der Ergebnisse wurden neue Formate für die zweite Phase der Antragstellung entwickelt.

Die Zusammenarbeit in den trilateralen Arbeitsgruppen erwies sich als sehr fruchtbar und nahm daher mehr Zeit in Anspruch als ursprünglich vorgesehen. Es wurde daher auf die Präsentationen der Zwischenergebnisse verzichtet und nur vier Schlusspräsentationen veranstaltet. Die Kritikpunkte und Anmerkungen, die im Anschluss an jede Präsentation formuliert und z.T. noch einmal länger diskutiert wurden, notierten die Studierenden, um sie im Anschluss an den Workshop in die Überarbeitung ihrer Präsentationen aufzunehmen.

Am fünften Tag führte uns die zweite Exkursion im Rahmen des Workshops nach Theresienstadt, wo die Nationalsozialisten zwischen 1940 und 1945 ein Ghetto und Konzentrationslager einrichteten, war die Lektüre der Erzählung Kein Mensch auf der Straße von Reinerová vorangegangen. Diese Erzählung spielt sich im Jahre 1995 in Theresienstadt ab, wo die Ich-Erzählerin als Dolmetscherin an einer deutsch-tschechischen Tagung teilnimmt. Dank einer sehr ausführlichen Führung in englischer Sprache konnte die Gruppe die Geschichte von Theresienstadt und der NS-Besetzung im sogenannten ‚Protektorat‘ nachvollziehen. Auf der Rückfahrt nach Pilsen besuchte die Gruppe die Gedenkstätte von Lidice, dem 1942 von den Nationalsozialisten vernichteten tschechischen Dorf, was auch durch die Lektüre der Erzählung Kotige Schuhe von Reinerová, ihrer allerersten Erzählung, die sie im mexikanischen Exil unmittelbar nach der Vernichtung von Lidice verfasste, vorbereitet worden war. Der für alle Teilnehmenden sehr eindrückliche Tag endete mit einem gemeinsamen Abendessen.

Weiterführende Links zu den Kooperations Universitäten Pilsen und Toulouse

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