Jenseits der Erfahrungswelt
Quanten sind kleinste Bausteine unserer materiellen Welt. Sie sind immer noch schwer begreiflich, da ihr Verhalten fundamental von den gewohnten Gesetzmäßig- keiten unserer Erfahrungswelt abweicht. Prof. Dr. Markus Heyl und sein Forschungs- team widmen sich der Aufgabe, die komplexen Eigenschaften und Dynamiken von Quantenteilchen systematisch zu entschlüsseln.
Markus Heyl, Professor für Theoretische Physik an der Universität Augsburg, legt bei der Beschreibung quantenphysikalischer Phänomene großen Wert auf präzise Terminologie. Quantenphysik sei grundlegend unanschaulich, betont er: „Sie entzieht sich häufig unserem intuitiven Verständnis.“ Während die experimentelle Physik auf die Beobachtung und das Messen von Naturphänomenen fokussiert ist, verfolgt die theoretische Physik, insbesondere in Heyls Arbeitsbereich, das Ziel, diese Phänomene mathematisch zu modellieren und zu erklären. „Wir formulieren Hypothesen und Modelle, die anschließend experimentell überprüft werden“, erläutert Heyl. Die theoretische Arbeit erfordert dabei vor allem geistige Präzision und konzeptionelle Kreativität, unterstützt durch umfangreiche rechnerische Simulationen. Quantenteilchen sind elementare Teilchen im Mikrokosmos, den man erreicht, wenn man bis auf die Ebene von Atomen hineinzoomt. „Sie sind die Bestandteile, aus denen alle Stoffe sind. Aber ihre Eigenschaften entsprechen nicht dem, was man aus der Erfahrungswelt kennt“, sagt Heyl und führt dies am Beispiel des Mondes aus: „Den Mond sehen wir nicht immer, trotzdem gibt es keinen Zweifel daran, dass es ihn gibt.“
Durch den Einfluss des Lichts springen die Elektronen auf andere dieser festen Bahnen – und wieder zurück. „Beim Sprung auf die innere Bahn wird Licht zurückgesendet. Dieses Licht ist quantisiert, für jedes Atom verschieden, und hat eine spezifische Farbe“, fasst Heyl zusammen. Markus Heyl sitzt vor einer großen weißen Tafel. Darauf drängen sich Dutzende von Formeln – Integrale, Summenzeichen, Indizes. Mit ihrer Hilfe kann er eine neue Welt auf schließen. „Bei unserer Arbeit“, sagt er, „geht es nicht mehr um ein einzelnes Quantenteilchen. Sondern darum, was passiert, wenn viele Teilchen zusammenwirken.“
In der Gruppe völlig anders
Heyls Forschungsarbeit konzentriert sich auf die theoretische Quantenmechanik vieler Teilchen. Bereits das Verhalten einzelner Quantenteilchen ist komplex. In der Gruppe jedoch entfalten sie völlig neue Eigenschaften, die nicht auf die Eigenschaften der Einzelteilchen zurückgeführt werden können. Die von seinem Vorgänger Dieter Vollhardt formulierte Maxime „eins, zwei, viele“ beschreibt diesen Übergang von klaren Regeln weniger Quantenteilchen zu kollektiven Phänomenen, die man nicht mehr aus dem Verhalten der Einzelnen ableiten kann. Materialien mit völlig neuen Eigenschaften sind so denkbar – von exotischen Supraleitern bis zu quantenmechanischen Flüssigkeiten, die sich jeder Intuition entziehen.
„Es ist Grundlagenforschung im besten Sinne“, sagt Heyl. „Wir wissen oft noch nicht, wofür es am Ende nützlich sein wird. Aber wir wissen, dass die Forschung uns zu fundamentalen Einsichten führt.“ Dennoch haben sich aus solchen Untersuchungen bereits Anwendungen entwickelt. Heyl erinnert sich an einen Vortrag eines Biophysikers über Vogelschwärme, der ihn zu neuer Forschung verleitete. „Quantenphysik hat Parallelen zur Biologie: Ein Vogel ist faszinierend, aber ein Schwarm verhält sich noch ein mal ganz anders – mehr als die Summe seiner Teile.“ Analog zu biologischen Systemen, in denen das Verhalten eines Schwarms von Vögeln nicht einfach die Summe der einzelnen Vögel ist, untersucht Heyl die emergenten Eigenschaften von Systemen vieler Quantenteilchen. „Vögel sind garantiert keine quantenmechanischen Objekte, sie haben eigenständige Wahrnehmung und Reflexe“, sagt er mit einem Lächeln. „Aber wir haben uns gefragt, ob es so etwas wie Schwarmverhalten auch bei Quantenteilchen gibt.“ Fünf Jahre lang forschte er daran – zunächst aus reiner Neugier. Dann kam einem Kollegen die Idee: „Da raus ließe sich ein Sensor bauen.“
Quanten im Magnetfeld
Die Vision: ein Quantenschwarm, der empfindlich auf Magnetfelder reagiert. Misst man seine Bewegung, kann man Stärke und Richtung des Feldes bestimmen. Gebaut hat so ein Gerät noch niemand – aber allein die Möglichkeit zeigt, wie überraschend Grundlagenforschung neue Wege weist. Heyls Forschung – und die seines Teams – sucht immer wieder Parallelen zwischen Natur und Quantenmechanik. Ein Beispiel ist die Phasenseparation – ein wichtiges Ordnungssystem in biologischen Zellen. Verschiedene Bausteine der Zellen, die aus Flüssigkeiten bestehen, bleiben strikt getrennt, obwohl sie sich mischen könnten. Überträgt man dieses Prinzip auf quantenmechanische Flüssigkeiten, ergeben sich neue Fragen: Kann man auch quantenmechanische Flüssigkeiten entsprechend treffen und ergeben sich sogar neue Eigenschaften, wenn die Bestandteile der Flüssigkeit verschränkt sind?
Noch exotischer wird es bei der so genannten Spinflüssigkeit. Sie verhält sich im Kältezustand ähnlich wie H2 O, aber dennoch anders: Wasser friert zu Eis, weil sich Wasser stoffbrückenbindungen verhärten – mit einer gewissen Unschärfe, die Physiker als „Eisregel“ kennen. Spin- flüssigkeiten besitzen ebenfalls eine Eisregel, bleiben jedoch auch bei tiefsten Temperaturen flüssig. „Die Teilchen bilden kein Kristallgitter, sondern bleiben in einem Zustand permanenter quantenmechanischer Verschränkung“, erklärt Heyl. Es ist diese Verschränkung, die potenziell für diverse Anwendung in der Quanteninformationstechnologie sehr hilfreich sein könnte.
Quanten für den Computer
Denn ein bedeutender Anwendungsbereich der theoretischen Quantenphysik liegt in der Entwicklung von Quantencomputern. Sie gelten als Rechenmaschinen der Zukunft – doch es sind noch wichtige Fragen auf dem Weg dorthin zu klären. „Wir wissen, dass sie prinzipiell viele Probleme lösen können“, sagt er. „Aber wir wissen nicht, wie man den Weg am effizientesten beschreitet.“ Was macht Quantenrechner so speziell? „Herkömmliche Rechner kennen nur Bits mit zwei Zuständen, 0 und 1“, erklärt Heyl.
Quantencomputer hingegen arbeiten mit Qbits, die mehrere Zustände gleichzeitig haben können. Hier arbeitet Heyls Team an Lösungen, wie das Verhalten von Qbits zur Nutzung als Rechenmaschine genutzt werden können. Das Potenzial ist gewaltig: Einige Dutzend Qubits könnten aus reichen, um Berechnungen zu ermöglichen, für die konventionelle Rechner Jahre benötigen. Wie Quantencomputer arbeiten, erklärt Heyl mit einem Vergleich: „Stellen Sie sich vor, Sie haben tausend Zahlen und wollen zu jeder zehn addieren. Ein klassischer Computer braucht dafür tausend Rechenschritte. Ein Quantencomputer macht das in einem einzigen Schritt – er kann alle Möglichkeiten gleichzeitig berechnen.“ Diese Fähigkeit nennt man Quantenparallelisierung.
Als ein weiteres zentrales Hindernis auf dem Weg zum Quantencomputer nennt Markus Heyl das Soft ware-Gap. Ähnlich wie in den 1980ern war Computerbauern noch nicht klar, wofür sich ihre neue Rechenleistung überhaupt nutzen ließ. Heute stehe man bei Quantencomputern an einem ähnlichen Punkt. „Die bekanntesten Anwendungen, wie das Knacken von Verschlüsselungen, sind vielleicht die am wenigsten relevanten“, meint Heyl. Viel interessanter seien aus seiner Perspektive sogenannte Quantensimulationen: Mit Quantencomputern ließen sich Simulationen von Quantenmaterialien realisieren, um Materialeigenschaften präzise vorherzusagen.
Das könnte für die Industrie revolutionär sein, etwa mit Blick auf die Entwicklung neuer chemischer Produkte. Denn herkömmliche Methoden stoßen immer wieder an ihre Grenzen. Dennoch nutzt sein Team bereits heute Methoden des maschinellen Lernens für die theoretische Beschreibung von Systemen vieler Quantenteilchen – darunter neuronale Netzwerke, wie sie auch Sprachmodelle antreiben. Ziel ist es, die unendlichen Möglichkeiten der Quantenwelt in handhabbare Strukturen zu übersetzen. Damit lassen sich jetzt schon Probleme lösen, bei denen normale Supercomputer an ihre Grenzen kommen. So entstehen immer neue Verbindungen zwischen Physik, Biologie, Informatik – und reiner Neugier. Ob Schwarmverhalten, Spinflüssigkeiten oder Quantencomputer, für Markus Heyl ist all das Teil einer größeren Erzählung. „Wir wollen verstehen, wie sich unsere Welt auf den kleinsten Ebenen organisiert. Und manchmal finden wir Antworten an völlig unerwarteten Orten.“
jf