Sammlung Rechtsanthropologie Prof. Dr. h.c. Wolfgang Fikentscher
Schenkung der rechtsanthropologischen Bibliothek
2015 erhielt die Universitätsbibliothek einen Teil der Bibliothek von Herrn Professor Dr. Dr. h.c. Wolfgang Fikentscher (1926 – 2015) aus dessen Nachlass durch die Familie Fikentscher schenkweise überlassen. Es handelt sich dabei um einen Bücherbestand aus dem Gebiet der Anthropologie, den Wolfgang Fikentscher während seiner Zeit als aktiver Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, aber vor allem während seiner Emeritierung aus eigenen Mitteln aufgebaut hat.
Zur Person: Wolfgang Fikentscher
Wolfgang Fikentscher war einer der bedeutendsten deutschen Rechtswissenschaftler des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts.
(vgl. zu Fikentscher nur Bernhard Großfeld, in: Stefan Grundmann/Karl Riesenhuber (Hrsg.), Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler. Eine Ideengeschichte in Einzeldarstellungen, Band 1, Berlin, New York 2007, S. 221-236; Jan-Hendrik Röver, On the Dialogue between Legal Systems and the Dialogue between Cultures: The German Comparatist Wolfgang Fikentscher, in: American Journal of Comparative Law Bd. 63 (2015), S. 701-710; Thomas M.J. Möllers, in: Juristenzeitung 2015, S. 569)
Er war über seine Leistungen im Bereich des Privat- und Wirtschaftsrechts sowie der Methodenlehre hinaus ein Pionier der deutschen Rechtsanthropologie. (Rechts-)Anthropologie ist dabei die Wissenschaft vom „kulturell Fremden“ (so die Umschreibung von Karl-Heinz Kohl, Ethnologie - die Wissenschaft vom kulturell Fremden). In diesem Gebiet wurde traditionellerweise die Lebensweise von ursprünglichen Gesellschaften beschrieben (wie z.B. der Kapauku Papua, also der Ureinwohner Papua-Neuguineas). Neuerdings werden damit auch aktuelle Fragen wie z.B. die Stellung der Kurden in Deutschland erfasst.
Fikentscher lernte den Ansatz der Rechtsanthropologie in den Vereinigten Staaten kennen, insbesondere bei seinem Lehrer Leopold Pospíšil an der Universität Yale, und brachte ihn nach Deutschland. Unzählige Vorträge, Vorlesungen und Seminare zeugen davon. Viele Jahre leitete er das Münchner Büro des Gruter Institute for Law and Behavioral Research, Portola Valley, California, USA und leitete zudem bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften die Kommission für kulturanthropologische Studien. Insbesondere drei umfangreiche Bücher stellen den Kern seines rechtsanthropologischen Werks dar: Modes of Thought (1995; 2. Aufl. 2005), Culture, Law and Economics: Three Berkeley Lectures (2004) und Law and Anthropology (2009; 2. Aufl. 2016).
Bibliotheksbestand
Kern der Bibliothek sind die sog. „Rote Reihe“ sowie die sog. „Blaue Reihe“. Es handelt sich bei beiden Reihen um Textsammlungen von Rechtsvorschriften US-amerikanischer Ureinwohner. Die Rote Reihe enthält die materiell-rechtliche und die Blaue Reihe die verfahrensrechtliche Sammlung.
Die „Rote“ und die „Blaue Reihe“ sind das Ergebnis jahrzehntelanger Sammel- und Forschungstätigkeit, die Wolfgang Fikentscher zusammen mit seinem Kollegen Professor Robert D. Cooter (*1945) von der Universität Berkeley zwischen 1980 und 2010 durchführte. Eine vergleichbare Sammlung des Rechts US-amerikanischer Ureinwohner hatte es vor ihrer Tätigkeit nicht gegeben; es handelte sich bis zu der Tätigkeit von Cooter und Fikentscher sozusagen um einen blinden Punkt in der Rechtswissenschaft der Vereinigten Staaten. Die Sammlung überzeugt in ihrem Ansatz, sich nicht auf einzelne Stämme zu konzentrieren, sondern möglichst sämtliche Stämme zu erfassen. Wolfgang Fikentscher trieb die Sammeltätigkeit insbesondere während seiner Forschungsaufenthalte in Berkeley in den Jahren 1980–1981, 1988, 1992 und 1996–2000 voran.
Die Auswertung des Materials führte zu zwei bedeutenden Publikationen von Wolfgang Fikentscher zusammen mit Robert Cooter (Robert D. Cooter/Wolfgang Fikentscher, Indian Common Law: The Role of Custom in American Indian Tribal Courts (pts. 1–2), 46 Am. J. Comp. L. 287, 509 (1998); dies., American Indian Law Codes: Pragmatic Law and Tribal Identity, 56 Am. J. Comp. L. 29 (2008)). In ihnen wurde erstmals der Zusammenhang „indianischer“ Rechte dargestellt. Für diese bedeutenden Forschungen wurden Wolfgang Fikentscher und Robert D. Cooter 1994 mit dem Forschungspreis der Max-Planck-Gesellschaft ausgezeichnet.
Neben der „Roten“ und der „Blauen Reihe“ enthält die Bibliothek einen reichen Bestand deutschen und internationalen Schrifttums zur Kultur-, Wirtschafts- und Rechtsanthropologie. Es wurden knapp 1.000 Bücher bzw. Kleinschrifttum katalogisiert.
Suchhinweise
Die Aufstellung der Sammlung erfolgt unter einem eigenen Lokalkennzeichen, dem Lokalkennzeichen 35, im Untergeschoss der Teilbibliothek Sozialwissenschaften.
Den Bestand der Sammlung können Sie sich im OPAC der UB Augsburg anzeigen lassen: Definieren Sie in der Suchmaske ein Suchfeld als Signatur und geben Sie dort 35* ein.
Im Rahmen der Regensburger Verbundklassifikation wurde der konkrete Fächerbezug beibehalten, so dass die Werke auch fachbezogen gesucht werden können.
Zur Person: Jörg Menzel
Im Sinn einer lebenden rechtsanthropologischen Wissenschaft wird die „Sammlung Rechtsanthropologie Prof. Dr. h.c. Wolfgang Fikentscher“ fortlaufend ergänzt.
2017 konnte u.a. der Nachlass von Professor Dr. Jörg Menzel (* 31. Januar 1965; † 9. April 2016) durch die Universitätsbibliothek Augsburg übernommen werden. Jörg Menzels akademische Vita und sein wissenschaftliches Oeuvre zeichneten sich – bei einer tiefen Verwurzelung im deutschen öffentlichen Recht – ebenso durch eine starke Internationalität sowie durch die symbiotische Verbindung von Wissenschaft und Praxis aus. So wurde er 2003 – nur wenige Jahre nach der Überwindung des Khmer Rouge-Regimes – Rechts- und Gesetzgebungsberater beim Senat des Königreichs Kambodscha. Er begleitete die kritische Phase des allmählichen Übergangs zur Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit bis 2011 als wissenschaftlicher Berater. Sein Wirken beschränkte sich dabei nicht auf die fachliche Begleitung von Gesetzgebungsvorhaben und Verfassungsreformen. Mit seiner kontinuierlichen Lehrtätigkeit an kambodschanischen Universitäten sowie durch die Initiierung und Herausgabe der ersten systematischen Lehrbücher zum kambodschanischen Recht in englischer Sprache leistete Menzel einen entscheidenden Beitrag zum Aufbau einer international anschlussfähigen Rechtswissenschaft in Kambodscha. 2016 kehrte Jörg Menzel nach Asien zurück und übernahm einen Lehrstuhl an der Türkisch-Deutschen Universität. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der rechtswissenschaftlichen Fakultät an dieser einzigartigen Einrichtung. Am 9. April 2016 verstarb Jörg Menzel völlig unerwartet im Alter von nur 51 Jahren an seiner neuen Wirkungsstätte in Istanbul.
Der asiatische Schwerpunkt des wissenschaftlichen und praktischen Arbeitens von Jörg Menzel spiegelt sich auch in seiner Bibliothek und ihren gesammelten Werken wider. Im rechtsanthropologischen Teil ergänzen und erweitern sie die Sammlung Fikentscher hervorragend.